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Interview: Warum brauchen wir eine genderbewusste Pädagogik, Frau Focks?

Publiziert am 07.06.2022  von Petra Focks

DBM: Was ist genderbewusste Pädagogik und warum brauchen wir sie?

Petra Focks: Grundlage einer geschlechterreflektierten Pädagogik ist es, Kinder – unabhängig von Geschlechterstereotypen – in ihrer Individualität zu fördern.

In ihren Lebenswelten sind Kinder von Anfang an überall mit Vorstellungen zum Geschlecht konfrontiert: in der Familie, in der Kindertagesstätte, im Kontakt mit anderen, über Spielwaren, Kinderbücher und andere mediale Einflüsse. Vielfach unbemerkt filtern Kinder tagtäglich Informationen über „Männlichkeit“, „Weiblichkeit“ und die Geschlechterverhältnisse aus der Umwelt heraus. Sie entnehmen ihrer Umwelt diese Botschaften – Botschaften, die Erwachsene häufig nicht (mehr) bewusst wahrnehmen. Alle diese Symbole haben eine Bedeutung für sie.  Kinder lernen aktiv, sie beobachten aufmerksam, was in ihren Lebenswelten geschieht. Dabei erleben sie, dass sehr viele Lebensbereiche vor allem nach männlich und weiblich unterschieden werden.  Diese Unterscheidung hat Einfluss auf die Entwicklung von Kindern. Denn Geschlecht ist verwoben in alle Lebensbereiche und wirkt auf verschiedenen Ebenen:

  • Ebene der Symbole und Stereotype (Kleidung, Spielwaren, Farben, Formen)
  • Strukturebene (Wie die Gesellschaft aufgebaut ist, wer welche Berufe ausübt)
  • Ebene der Geschlechtsidentitätsentwicklung (Verhaltensweisen, Gefühlsäußerungen und Körperpraxen sind vergeschlechtlicht)

Alle Menschen, die in dieser Kultur aufgewachsen sind und leben, sind beeinflusst und geprägt von den allgegenwärtigen Symbolen, Strukturen und Identitätskonstruktionen von Geschlecht. So ist es nicht verwunderlich, dass auch Eltern und pädagogische Fachkräfte, die Kinder gleich behandeln wollen, sich vielfach an tradierten Geschlechtervorstellungen orientieren. Wenn wir uns nicht bewusst und reflektiert damit auseinandersetzen, reproduzieren wir meist die vorherrschenden Vorstellungen von „typisch männlich“ und „typisch weiblich“, ob wir wollen oder nicht.  

Dies führt jedoch häufig zu einer Einschränkung der Entfaltungsmöglichkeiten von Kindern auf das, was jeweils als „weiblich“ oder als „männlich“ gilt. Und Kinder, die den geschlechtstypischen Vorgaben nicht entsprechen, werden vielfach ausgegrenzt. Die vorherrschende Geschlechterkonstruktion birgt außerdem soziale Ungleichheiten wie beispielsweise die ungleiche Bezahlung von Frauen* und Männern* und die Abwertung pädagogischer Berufe.

DBM: Warum ist es wichtig, dass Kinder in ihren Verhaltensweisen nicht 
 auf „typisch männlich“ oder „typisch weiblich“ festgelegt werden?

Petra Focks: Wenn Kinder keine Spielräume in der Identitätsentwicklung ermöglicht werden, orientieren sie sich häufig an den traditionellen Geschlechtervorstellungen. Kinder werden dadurch eingeschränkt in ihren Entfaltungsmöglichkeiten. Wenn Kinder in einigen Bereichen weniger und in anderen mehr gefördert werden, weil beispielsweise Lesen als weiblich und Mathematik als männlich gilt, können sie in den entsprechenden Bereichen weniger ihre Fähigkeiten entwickeln.

Auch überschätzen manche Kinder ihre körperlichen Möglichkeiten und riskieren häufig nicht nur Schrammen, sondern sogar Verletzungen bei sich und anderen, um dem vorherrschenden Vorstellungen vom „starken Jungen“ zu genügen. Kinder lernen dadurch, dass Angst, Hilflosigkeit und Schwäche „nicht zu Jungen gehören“. Dies kann dazu führen, dass sie diese Gefühle für sich ablehnen.
Wenn Kinder ihre Bedürfnisse nach Aktivität oder raumgreifendem Verhalten nicht ausleben, weil „Mädchen eben nicht so sind“, werden ihre Entfaltungsmöglichkeiten eingeschränkt. Sie lernen mehr sich anzupassen als sich selbst zu behaupten.
Diese und andere geschlechtstypische soziale Praktiken versprechen Anerkennung von anderen Kindern und werden – ungewollt – vielfach von Erwachsenen unterstützt.
Grundlage einer geschlechterreflektierten Pädagogik ist es daher Kinder – unabhängig von Geschlechterstereotypen – in ihrer Individualität zu fördern und geschlechtstypische (ungesunde und einschränkende) soziale Praktiken bei den Kindern aufzudecken und diese Prozesse des „doing gender“ kritisch zu begleiten.

  • So werden beispielsweise handwerkliche, technische oder sportliche Tätigkeiten nicht automatisch dem Kollegen* oder den Vätern* oder Jungen* in der Gruppe zugewiesen.
  • Es geht darum, geschlechtstypische soziale Praktiken, die die Entwicklung von Kindern einengen als solche zu erkennen, zu vermeiden und neue Erfahrungen jenseits von Geschlechterklischees zu ermöglichen:
  • So werden regelmäßig Möglichkeiten gegeben, dass Kinder mit geschlechtsuntypischen Spielen und Verhaltensweisen experimentieren können – es geht dabei nicht um Rollentausch, sondern darum viele Bereiche auszuprobieren und dann zu erfahren, was dem jeweiligen Kind entspricht.
  • Vermeiden Sie Einordnungen wie „normal“ und „abweichend“. Um Kinder in ihrer Vielfalt zu fördern ist es wichtig, Verallgemeinerungen, wie „die Mädchen“ bzw. „die Jungen“ oder auch typisch weiblich“ bzw. „typisch männlich“, die meist unreflektiert verwendet werden, zu hinterfragen:
  • Z.B. statt „Ich brauche drei starke Jungen, die mir helfen ...“, besser „Wer kann mir helfen ...“ formulieren oder statt „Wer von den Mädchen hilft den Kleinen …?“, besser „Wer möchte helfen...?“ sagen. Formulierungen meiden wie „Für ein Mädchen spielst du sehr gut Fußball!“ oder „Die Jungen sind jetzt mal ruhig!“. Besser ist es, direkt jene Kinder beim Namen zu nennen.

DBM: Welche Rolle spielt der kulturelle Hintergrund?

Petra Focks: Geschlecht ist nur ein Merkmal der individuellen Identitätsentwicklung von Kindern. Die Lebenswelten von Kindern sind immer auch beeinflusst von ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten Altersgruppe, Schicht und eben auch Kultur. Sie werden als Angehörige dieser Gruppen betrachtet und definieren sich selbst in diesem Geflecht von Zugehörigkeiten. Es ist hier immer eine Herausforderung, das Thema Geschlecht weder zu banalisieren noch zu dramatisieren. Denn Geschlecht ist nur eines von verschiedenen Aspekten der Identitätsentwicklung von Kindern und auch nur ein Aspekt von Faktoren, die mit Chancen bzw. Benachteiligungen verbunden sind.

Nicht nur in Bezug auf Geschlecht, sondern auch auf Kultur und Ethnizität ist es wichtig, mit Verallgemeinerungen und Stereotypen reflektiert umzugehen und diese zu vermeiden. Es geht darum Kinder bzw. Eltern nicht vor allem als Angehörige einer Gruppe zu betrachten, sondern sie in ihrer Individualität zu sehen und soziale Ungleichheiten auszugleichen. Als pädagogische Fachkräfte ist daher Selbst- und Teamreflektion im Zusammenhang mit „doing gender“ und auch mit „doing ethnicity“ notwendig, also der Frage wo und wie auch wir vorherrschende Stereotype in Bezug auf Geschlecht und Kultur/Etnizität, ungewollt, reproduzieren.

Das Interview führte A. Gerleit für Don Bosco Medien (DBM)

Dr. Petra Focks ist Professorin für soziale Arbeit an der kath. Hochschule für Sozialwesen in Berlin. Sie verfügt über langjährige Erfahrung in Forschung, Lehre und Fortbildung im Bereich geschlechterbewusste Pädagogik und Bildung von Kindern und Jugendlichen.

Diese sowie weiterführende und vertiefende Informationen zum Thema finden Sie im Buch der Autorin: "Starke Mädchen, starke Jungen. Genderbewusste Pädagogik in der Kita." Verlag Herder. Freiburg, Basel und Wien.

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