Entspannt und achtsam durch den Alltag.

Interkulturelle Begegnung durch „erzählende Bilder“

Publiziert am 09.10.2015  von Susanne Brandt

In der Begegnung mit vielen Menschen, die als Flüchtlinge Schutz und Sicherheit in Europa suchen, stellt sich allerorts die Frage, wie das Ankommen und Einleben für Kinder, Jugendliche, Männer und Frauen mit Verständnis und Einfühlungsvermögen begleitet werden kann. Sprache und Kommunikation spielen dabei eine Schlüsselrolle. Vielerorts engagieren sich Ehrenamtliche als Sprach- und Integrationlotsen, unterstützen das Deutschlernen und versuchen über verschiedene Wege, das gegenseitige Kennenlernen und Vertrautwerden durch gemeinsame Aktivitäten mitzugestalten. Dabei erweist sich das Geschichtenerzählen, verbunden mit spielerischen, sinnlichen und bildlichen Mitteln, als eine Brücke zwischen den Kulturen, die auch mit nur geringen Sprachkenntnissen trägt.

 

Leben in Vielfalt braucht eine Vielfalt an Bildern und Geschichten

 

Lernen können wir von der nigerianische Geschichtenerzählerin Chimamanda Ngozi Adichie: Sie erzählt und verbreitet Geschichten, um nicht in die „Gefahr einer einzigen Geschichte“ zu geraten. Denn für ein Leben in Vielfalt brauchen wir eine Vielfalt an Geschichten, die uns zeigen, wie wir Vertrautes und Fremdes, Gemeinsamkeiten und Unterschiede im Alltag wertschätzen und teilen können.
In diesem Sinne bietet das gemeinsame Entdecken und Kennenlernen von Geschichten und Bildern die Chance der Inklusion, wenn alle Kinder und Familien sich einbezogen fühlen und Freude daran haben können  –  die Geflohenen und  Zugewanderten ebenso wie jene, die schon lange oder immer hier leben.
Das gelingt bei denen, die erst seit kurzer Zeit bei uns sind und sich über Schriftsprache noch nicht sicher orientieren können, durch persönliche und mündliche Ansprache und Einladung besonders gut.

 

Mit Bildern und Worten Brücken bauen – warum und wie?

 

Die Erfahrung, sich in die Welt der Bilder zu vertiefen und in ihnen etwas zu „lesen“, was nicht eindeutig „festgeschrieben“ ist, wird individuell sehr unterschiedlich wahrgenommen.  Menschen - und ganz besonders Kinder -  können nach erlittener Not durch Krieg und Flucht und inmitten der großen Anstrengung der Neuorientierung Entspannung dabei finden, ihre Fantasie mit neuen Bildern anzuregen, sich in Bilderwelten hinein zu träumen, Vertrautes zu erkennen und über Wunderbares zu staunen. Gleichzeitig bieten Bilder in Verbindung mit dem gesprochenen, vielleicht auch gesungenen Wort eine hervorragende Hilfe beim Erwerb einer neuen Sprache – oder helfen Eltern dabei, das Erzählen in der vertrauten Muttersprache als kulturellen Schatz in der noch fremden Umgebung weiter zu pflegen und ihren Kindern damit Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln.
Und ganz besonders wichtig: Beim Erzählen zu Bildern geht es immer um Dialog, um persönliche Kommunikation zwischen Menschen, die durch Bilder niemals verstellt, sondern vielmehr gestützt wird. Entscheidend ist nicht das Medium selbst, sondern die vermittelnde Wirkung des Mediums in der Begegnung von Mensch zu Mensch.
 
Daneben kann das, was durch Bilder und begleitende Worte erzählt wird, auch als eine „Botschaft“ für ein gutes Miteinander im Sinne einer weltweit gültigen Kultur der Menschenrechte verstanden werden, die von gemeinsamen Werten geprägt ist – nicht vordergründig moralisch und belehrend, sondern einladend und anregend, um über Bilder und Geschichten mit folgenden Erfahrungen vertraut zu werden:

 
  • Begegnung mit elementaren menschlichen Bedürfnissen und Gefühlen (Essen und Trinken, Schutz und Geborgenheit)

  • Lust und Freude beim Erkennen, Durchschauen und Mitmachen als positives Gemeinschaftserlebnis und Bestärkung der eigenen Kompetenzen

  • Wissen und Wahrnehmung von unterschiedlichen Lebensformen und -vorstellungen, die mit Ängsten, Not und Grenzen ebenso verbunden sind wie mit Solidarität und Verständnis füreinander

  • Aufgeschlossenheit und Sensibilität für Ungewohntes und Fremdes

  • Respekt und Achtung vor den Bedürfnissen der anderen.

 
 

Warum Kamishibai?

 

Das ursprünglich aus Japan stammende Kamishibai steht für eine lange interkulturelle Tradition des bildgestützten Erzählens mit mobilen Mitteln, die überall leicht zum Einsatz kommen können: Bewegliche Bildkarten erzählen Geschichten und der Rahmen sorgt nicht nur dafür, dass diese Bilder einen gut sichtbaren Platz finden, Zeit und Ruhe zum Betrachten schenken. Er trägt auch dazu bei, dass dem Bild - und damit seiner „Botschaft“ - eine besondere Konzentration und Wertschätzung entgegengebracht wird.
Drei charakteristische Eigenschaften und Chancen des Kamishibais machen den besonderen Reiz dieses Mediums aus und haben seine weltweite Verbreitung und Weiterentwicklung mit beeinflusst:
1. Bildgestütztes Erzählen mit dem Kamishibai fördert in vielfältiger Weise persönliche Begegnung, Kommunikation und das Einbringen von verschiedenen Talenten (Malen, Singen, Sprechen, Spielen, Mimik und Körperausdruck).
2. Bilder sind gute Begleiter beim Spracherwerb wie für das muttersprachliche Erzählen. Sie öffnen einen ruhigen und freien Betrachtungs- und Deutungsraum und helfen, sich die Bedeutung von Worten zu erschließen.
3. Das Kamishibai ist mobil, überall leicht zur Hand und somit für viele Alltags- und Gruppensituationen spontan und ohne großen Aufwand einsetzbar.
In einer Handreichung des Goethe-Instituts heißt es speziell zur sprachfördernden Wirkung des Kamishibais:
„Die Visualisierung des Inhalts hilft den Zuschauern sich in der fremdsprachigen Geschichte besser zu orientieren und bündelt deren Aufmerksamkeit. Das Kind hört die Geschichte und schaut sich gleichzeitig die Illustrationen an. Die Bilder unterstützen und verstärken die Kraft der inneren Bilder, die die Vorstellungskraft des Kindes zuvor ausgelöst hat.
Kamishibai bezieht das Kind in die erzählte Geschichte ein, indem es einfache Wörter und Sätze in der Fremdsprache zusammen mit anderen Kindern wiederholen kann.“
Quelle: https://www.goethe.de/resources/files/pdf43/kamishibai_broszurka_DE.pdf

 
 

Für die Praxis:
Was ist bei der Auswahl der Geschichten und bei der Gestaltung eines Angebots mit dem Kamishibai Erzähltheater (nicht nur) für Flüchtlinge zu beachten?

 

Die Gruppe sollte nicht zu groß sein! Ideal ist ein Vorlesen und Erzählen in Kleingruppen (d.h. mit weniger als 10 Kindern), damit eine persönliche Ansprache und individuelle Berücksichtigung von verschiedenen sprachlichen Voraussetzungen und Reaktionen der einzelnen Kinder möglich ist. Das Kamishibai eignet sich auch deshalb besonders gut für das dialogische Erzählen, weil es durch das große Format des stehenden Bildes eine gute Bilderkennung für alle Kinder gewährleistet, während sich der oder die Vorlesende / Erzählende mit Sprache und Gesten ungeteilt den Kindern zuwenden kann.
Bei geringen Deutschkenntnissen bzw. verschiedenen Herkunftssprachen helfen die Bilder, zugleich aber auch begleitende Gesten und spielerische Mitmach-Elemente dabei, die Bedeutung der gesprochenen Worte zu entschlüsseln, Sinnzusammenhänge zu konstruieren und das Vertrauen in Wiedererkennbares zu stärken.

Folgende Kriterien sind bei der Auswahl von Bildergeschichten fürs Kamishibai von besonderer Bedeutung:
  • Geringer Textumfang bzw. überschaubare Handlung, die sich weitgehend aus der Bildfolge erschließt und leicht im freien Erzählen vermittelt werden kann

  • Wiedererkennbare Bilder und Handlungsmomente, die Kindern eine Anknüpfung an vertraute Alltagsdinge, Formen und Erfahrungen ermöglichen

  • Lebendige und deutlich erkennbare Bildszenen, die – auch unabhängig vom Handlungsverlauf der Geschichte – zum Entdecken, Erkennen und Benennen einladen

  • Möglichkeiten zur spielerischen und handlungsorientierten Erfahrung und Umsetzung mit dargestellten Dingen und Szenen durch Gestik, Mimik, Geräusche, Lautmalerei und evtl. ergänzenden, sinnlich anregenden Materialien – auch zum Mitmachen!

  • Besonders motivierend sind formelhafte Wiederholungen von sprachlichen Wendungen, z.B. kleine Reime oder Verse (im vorgegebenen Text oder auch spontan zu improvisieren), die zum Mit- oder Nachsprechen, vielleicht auch zum Singen einladen.

Zu den Bildkartenserien, die sich in diesem Sinne dieser Kriterien besonders gut zum Vorlesen und Erzählen bei Kindern zwischen 3 und 6 Jahren mit verschiedenen Herkunftssprachen und geringen Deutschkenntnissen eignen, gehören:

  • Der dicke fette Pfannkuchen

  • Die Jahreszeiten erleben mit Emma und Paul

  • Das Rübchen

  • Old MacDonald had a farm

  • Benno Bär (Wintergeschichte)

  • Es klopft bei Wanja in der Nacht (Wintergeschichte)

  • Die drei Schmetterlinge

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