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Afghanistan: Mädchen, das sind wir!

Publiziert am 01.09.2021  von Alexander Jansen

Eine Musikschule in Kabul

Eines der schönsten Bildungsvorhaben der letzten Jahre in Afghanistan war das Afghanistan National Institute of Music (ANIM) in Kabul. Die 2010 gegründete Musikschule von weltweitem Ruf förderte ganz gezielt die Musikalität, Kreativität und Fantasie von Mädchen. Das nationale Institut für Musik war schnell ein Dorn im Auge der Taliban, denn weltliche Musik war und ist ihnen ein Gräuel. 2014 verübten sie einen Anschlag auf den Gründer, den Musiker, Pädagogen und Kinderrechtler Dr. Ahmad Naser Sarmast. Er überlebte und rückte im Anschluss aber nicht von seinen Überzeugungen ab. Seine Schule erhielt im Februar 2018 den schwedischen Polar-Musikpreis, der auch als Nobelpreis für Musik bezeichnet wird.

Das Afghanistan National Institute of Music ist seit der Machtübernahme geschlossen. Bewaffnete Taliban hätten die Einrichtung betreten und Musikinstrumente zerstört. Voller Angst würden sich Lehrerinnen und Schülerinnen nicht mehr auf die Straße trauen und vorsorglich eigene Musikinstrumente verschwinden lassen. Dr. Ahmad Naser Sarmast befindet sich aktuell in Australien in Sicherheit und versucht in Interviews und Spendenaufrufen auf die Situation seiner Einrichtung, seines Personals und der jungen Musiker:innen aufmerksam zu machen.

Singen verboten

Bereits seit mehreren Monaten hatte sich die derzeitige Situation abgezeichnet, weitgehend unbeachtet von den Medien der westlichen Welt. So wurde etwa im März 2021 in Afghanistan ein Gesetz verkündet, das Mädchen und Frauen das Singen in der Öffentlichkeit verbat und unter Strafe stellte. Selbst das Mitsingen der afghanischen Nationalhymne war ihnen nicht mehr gestattet. Darüber hinaus war es Musiklehrern untersagt, Mädchen zu unterrichten.
Dr. Ahmad Naser Sarmast protestierte energisch und verkündete, dass dieses Gesetz von ihm und seiner Schule nicht beachtet werden würde. Doch insgesamt konnte er nichts mehr ausrichten. Dabei hatte er einmal das Amt des stellvertretenden Erziehungsministers bekleidet.

Das Lied der Mädchen

Nun scheint es so, als wären die Hoffnungsfunken zum Wohl von Mädchen und Frauen erloschen. Zum Vermächtnis des Afghanistan National Institute of Music zählt das Lied Dochtar astam!, das mir Dr. Ahmad Naser Sarmast für das Buchprojekt „Ich habe meine Märchen mitgebracht“ 2018 schenkte. Die Mädchenhymne wurde geschrieben von Sami Hamed und komponiert von Ustad Farid Shefta. Meine deutsche Übersetzung orientierte sich an einer Transkription von Mahbuba Elham Maqsoodi.

 

 

Mädchen, das sind wir!


Mädchen, das sind wir!
Wir blühen strahlend im Licht.
Wir sind die Boten aus dem Hoffnungsland.
Mit uns'ren Schritten zieht der Frühling ein.
Mit uns'ren Schritten zieht der Frühling ein.
Denn für uns gibt es keine Mauern mehr.

Mädchen, das sind wir!
Wir blühen strahlend im Licht.
Wir sind die Boten aus dem Hoffnungsland.
Wir verbrennen Dornen, bahnen den Weg.
Wir verbrennen Dornen, bahnen den Weg.
Steine werden für uns Sterne sein.
Steine werden für uns Sterne sein.
Mädchen, das sind wir!

Wir sind frei und Puppen sind wir nicht!
Wir sind frei und Puppen sind wir nicht!
Und wir gestalten unser Schicksal selbst.
Und blühen werden wir aus uns heraus.
Denn wir sind Blumen aus dem Paradies.
Denn wir sind Blumen aus dem Paradies.
Mädchen, das sind wir!

Wir sind klug und Bildung bringt uns voran.
Wir sind klug und Bildung bringt uns voran.
Es stehen Mädchen alle Wege frei.
Und ewig kling für alle unser Lied.
Wir werden jedem Gegner widersteh'n!
Wir werden jedem Gegner widersteh'n!
Mädchen, das sind wir!

Mädchen, das sind wir!
Wir blühen strahlend im Licht.
Wir sind die Boten aus dem Hoffnungsland.
Wir verbrennen Dornen, bahnen den Weg.
Wir verbrennen Dornen, bahnen den Weg.
Steine werden für uns Sterne sein.
Steine werden für uns Sterne sein.
Mädchen, das sind wir!

Bildung durch Spiel: Die Sesamstraße in Afghanistan

Das alles tut so weh. Zari, 6 Jahre, und Zeerik, 4 Jahre, sind bereits verschwunden. Vielleicht für immer. Hoffentlich nur auf Zeit. Die beiden Geschwister waren eigens für die afghanische Version der Sesamstraße hergestellte Muppets. Die Stabpuppe Zari sollte nach der Konzeption der gemeinnützigen Organisation Sesame Workshop ein „role model for girls“ sein, ein Vorbild für alle afghanischen Mädchen. Die neugierige, fröhliche und stets selbstbewusste Zari besaß verschiedene Outfits und konnte mit ihren Trachten die unterschiedlichen afghanischen Ethnien repräsentieren. Dazu trug sie immer eine Schuluniform und hatte ebenso einen cremefarbenen Hijab, ein Kopftuch, wie es von allen Schülerinnen und Studentinnen staatlicherseits verlangt wurde. Er aber verdeckte niemals ganz ihre Haare. Ihr Pony war immer zu sehen und in ihrer Freizeit blieb das Kopftuch oft auch ganz zu Hause und sie ließ ihren geflochtenen Zopf lustig baumeln. 2016 erschien sie zum ersten Mal im „Sesamgarten“, wie der 2011 gegründete Ableger Baghch-e-Simsim aus dem Persischen übersetzt heißt – oder vielmehr hieß, denn seine Zukunft ist zweifelhaft.

Bildung für Mädchen

Zari ging begeistert zur Schule und interessierte sich für viele Bereiche des Lebens, etwa für Berufe, Bildung, Kultur und Sport. In einer Folge interviewte sie etwa eine afghanische Skaterin und ließ sich das Skateboard und die verschiedenen Fahrweisen sowie die Slides und Grinds erklären, in einer anderen befragte sie bei einer Untersuchung ihre Ärztin, was es alles bräuchte, um auch einmal Ärztin zu werden.

Ihr jüngerer Puppenbruder Zeerab kam 2017 hinzu, auch er ein role model, denn er liebte und unterstützte Zari und das sollte nach Massud Sandscher, dem Direktor des afghanischen Medienkonzerns Moby, Produzent von Baghch-e-Simsim im Auftrag von Sesame Workshop und gefördert sowohl von der US-Regierung sowie des afghanischen Erziehungsministeriums, die Botschaft transportieren, „dass Jungen ihre Schwestern und die Frauen im Haus respektieren sollten.“

In Gefahr, weil wir Mädchen sind

Nur wenige Stunden nach der Machtübernahme durch die Taliban wurde der Facebook-Account von Baghch-e-Simsim kommentarlos gelöscht. Ebenso findet sich aktuell auf der Homepage von Sesame Workshop keine Beschreibung des afghanischen Projekts mehr. Statt Bilder und Informationen prangt dort ein großes und buntes „Oops!“ in Monsterfelloptik sowie die karge Bemerkung „We can’t seem to find that page“: Wir können diese Seite nicht finden.

Vielleicht sollten damit Mitarbeiter:innen geschützt werden oder an den einzelnen Produktionen beteiligte Kinder und deren Familien. Beispielsweise jene Puppenspielerin, die Zari zum Leben erweckte. Die frühere Kunst- und Musikstudentin an der Universität Kabul berichtete 2016 in einem Interview für das US-amerikanische Medienunternehmen Niagara Frontier Publications: „Im Allgemeinen sind wir in Afghanistan in Gefahr, weil wir Mädchen sind. Es ist schwer, mit Männern um uns herum zur Arbeit zu gehen. Zuerst wollte ich den Leuten nicht erzählen, dass ich mit den Puppen arbeite, und ich wollte den Medien nicht mein Foto geben, aber ich entschied, dass ich mutig sein muss.“

Mut und Zukunft: Zwei Begriffe, die bereits 2016 für Mädchen und Frauen in Afghanistan eingeschränkt waren. 85 % der Frauen verfügten über keine reguläre Schulbildung und nur 24 % der Frauen waren alphabetisiert.

Der deutsche Lyriker Friedrich Hölderlin schrieb 1803 in seinem Gedicht „Patmos“:

Nah ist
Und schwer zu fassen der Gott.
Wo aber Gefahr ist, wächst
Das Rettende auch.

Das Rettende, ja, das ist ihnen inständig zu wünschen, den Mädchen und Frauen in Afghanistan.

 

Alexander Jansen ist Heilpädagoge sowie Musik- und Theatertherapeut. Er verfügt über langjährige Erfahrungen in heilpädagogischer und künstlerischer Arbeit mit Kindern und Jugendlichen aus Kriegs- und Krisengebieten. Im Verlag Don Bosco Medien veröffentlichte er zuletzt den Band „Ich habe meinen Glauben mitgebracht“, der sich wie die Vorgängerbücher „Ich habe meine Musik mitgebracht“ und „Ich habe meine Märchen mitgebracht“ für die Integration von Kindern mit Migrationshintergrund einsetzt. Seine Kamishibai-Bildergeschichte „Das Mädchen mit der Perlenkette – Die Geschichte einer Flucht“ erhielt 2020 das KIMI-Kinderbuchsiegel für Vielfalt und Toleranz.

 

 

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